Als Benzin noch kühlte Kaum hatte die proliferierende Frühmorgensonne ihre ersten Strahlen in das kleine Mansardenzimmer gespuckt meldete sich sein pager. Unerbittlich schienen die Piep-Sequenzen auf die neue Nachricht aufmerksam machen zu wollen. Seine verklebten Lieder öffneten sich taktend bis auch die Pupillen dem hohen Lichtwert des anbrechenden Tages gewachsen waren, als das kleine nützliche Gerät schon längst verstummt war. So dauerte es einige Zeit bis er den Grund des Wachwerdens rekapituliert hatte und er griffelte zunächst erfolglos auf dem Beistelltisch nach dem Urheber der Störung. Die Fingerkuppen der weiter herauragenden Finger hinterließen zunächst Furchen im nicht völlig entleerten Puddingbecher. Den schicken flachen Designascher palpierte er gründlich aus und hatte dann den kleinen pager in der rechten Hand. Das Betätigen der ersten Menue-Taste benötigte einen gewissen Kraftaufwand, der genügte, das Gerät aus der glitschigen Hand wie ein Stück Seife flutschen zu lassen. Mit einem dezenten Plopp verriet es seine Landung nach elegantem Bogenflug irgendwo auf dem Boden. Der sternocleidomastoideus verlor seine Anspannung und der Kopf fiel ins Kissen - so als würde ein Synchronsprecher sagen: " Mist, auch das noch. " Draußen war das Summen der wasserstoffbetriebenen Mobilitätskanzeln (MK) zu hören. Er schmunzelte, schließlich hatte er noch rechtzeitig die Sonderzulassung für einen alten Mercedes Geländewagen der G-Klasse aus dem Jahre 2008 erhalten. Ansonsten durfte man solche Fossilienvernichter nur 2000 km pro Jahr fahren. Er also gehörte zu den Privilegierten, welche noch wirklich dem alten Individualverkehr fröhnen konnten. Dafür war er unangenehmerweise etwas exponierter als ihm lieb war und die Kraftstoffversorgung war fast so schwierig wie in dem Uralt-Analog-Film "soiled green" ein Stück Fleisch zu bekommen. Die software, die das kollisionsfreie Begegnen der Kanzeln an Kreuzungen ermöglichte, war ein Segen für die Bevölkerung - es hatte lange gedauert bis die zunehmende Verkehrsdichte den Fahrspaß der Einzelnen dem korrekten Ankommen Aller unterordnen konnte. Die Bedieneroberfläche war sein Werk. Es hatte eine gesellschaftspolitische Revolution gegeben: Die Selbstdarstellungsorgien schnell fahrender Automobillenker fanden neue Nahrung in speziellen großen Simulationscentren. Außerdem konnte man in vielen abgesperrten Arrealen des Landes mit alten Autos und Motorrädern weiträumig fahren. Natürlich waren die altherbebrachten Lenker mit Sondergenehmigung, wie er, noch zahlreich vertreten. Was in den 70er bis in die 90er Jahre des vorvorigen Jahrhunderts die Nordschleife des Nürburgrings für Besitzer schneller Motorräder war, die sonst im dichten Verkehr nur mit der StVO kollidierten und ohnehin nicht gut gelitten waren, waren nun die outsourcing and moving miles (OMM). Dort fuhren die Unheilbaren gegen teures Geld für Sprit auf schlechten Straßen um ihr Leben. Er durfte, mit kategorischem Überholverbot, wie die anderen Übriggebliebenen, noch uneingeschränkt überall fahren. Es gab noch viele, die ihre Fahrlizenz vor 2030 erworben hatten. Und die Mehrheit ? Sie brauchte doch ein neues Betätigungsfeld. Tieferlegen oder Tunen war mehr und mehr unbekannt und verpönt. Vor einigen Jahren hatte sich das 3D-Holographie-Verfahren etablieren können. Man mußte nicht mehr per Bildschirm und Video mit anderen kommunizieren sondern konnte sich die gewünschte Person als Raumkopie in sein Wohnzimmer holen. Weitaus schwieriger gestaltete es sich, diese Funktion in die Mobilitätskanzeln (MK) zu integrieren. So fuhren viele mit virtuellen Familienmitgliedern oder Bekannten durch die Suburbans. Begehrt war die Mitgliedschaft in einem Club, der die Kopie berühmter Menschen auf dem Beifahrersitz ermöglichte. Die Pornoindustrie war nicht unglücklich, schließlich war eine Berührung ausgeschlossen - nur die Animation und die Darstellung gewisser Körperhaltungen und auch Körperteile war möglich. Auch nur mit lebenden Personen war die holographische Kopie (HK) möglich. Die Personen wurden gescannt und eingelesen und dann mit Hochgeschwindigkeitsfunknetzen in die Kanzeln übertragen. Übrigens waren diese der Funktion des Faradayschen Käfigs wegen der Kohlefaserstreben beraubt. Anfang der 20er Jahre (2022) erfand ein Jugendlicher im Rahmen der new science (NS), ehemals Jugend Forscht, ein Verfahren mit dem es möglich war, spektrale Interferenzen zu neutralisieren. Die EuropNetworkGroup (ENG), ehemals Telekom, brauchte etwas, um Störungen in Ballungsgebieten zu beheben. Nun konnten gewiefte Lausbuben virtuelle Beifahrer in den Kanzeln ausschalten. Sehr zum Verdruß der kontaktbedürftigen Fahrer der Kanzeln. Einerseits waren die Menschen wegen des höheren alltäglichen Virtualisierungsgrades vermehrt auf echte Sozialkontakte angewiesen, andererseits brauchten sie aber deswegen mehr Lebens-Unterstützung. Meistens reichten die Künstlichen Beifahrer (KB) glücklicherweise aus. In Privatwohnungen allerdings hatten vor allem viele Singles solche HK-Abos. Die seit vielen Jahrzehnten bekannten Sozialpsychiatrischen Zentren (SPZ) in allen Stätten hatten enorme Hochkonjunktur. Die häufigste Diagnose war Dissoziations-Syndrom (DS). Die Trennung zwischen Wirklichkeit und Realität war aufgehoben. Die Holographe waren zwar ein Abbild der lebenden Person, aber bei Mißverständnissen begannen die holographierten Personen später bei echten Kontakten ihre ehemals gemachten Aussagen zu leugnen. Viele Beziehungen litten darunter. Inzwischen lies sich der pager nicht mehr einschalten. Die Pudding-Asche-Mischung hatte durch die Tasterritzen hindurch die Elektronik lahmgelegt. Knall, Brabbel, Grummel. Soeben hatte sich wahrscheinlich einer der Hauptschalldämpfer eines Mecedes CLK eines privilegierten Fahrers verabschiedet. Häufig sah er solche Unikate. Ganz in der Nähe war eine Spezialwerkstatt für historische Fahrzeuge. Aus seiner Sicht alles Mumpitz. Nur Fahrzeuge vor der Chip-Zeit waren wirklich historisch. Kennfeldsteuerung oder Sidebags, wie vor einigen Jahrzehnten üblich, waren für ihn keine Kriterien für alte Technik. Am liebsten fuhr er seinen Intermeccanica oder den geerbten Facel Vega. Diese hatte er in Tschechien stationiert. Hervorragende Mechaniker und beeindruckende Landstriche machten das Oldtimerleben dort perfekt. In Schweden stand ein Schneewittchensarg (Volvo P 1800 ES), in Bayern ein BMW 2000 CSA Coupe (genial), in Vaduz hatte er für den Notfall eine Honda CB 750 Four, in Innsbruck wartete eine BMW R 100 GS, ein altes Reisemotorrad. In der Türkei fuhr er gerne mit einem Uralgespann. In Cambridge wartete immer sehr gepflegt ein Jaguar E-Type der Serie 1. Die Bedienungsanleitung spricht von verschiedenen Reifenluftdrücken: Für normale Geschwindigkeiten bis 210 und darüber hinaus... Der BMW 3200 CS von 1962, ein echter GT = Grand Tourismo, stand in Baden Baden. Überhaupt gab es mehrere Stätte in denen er sehr spezielle Fahrzeuge unterhielt. Der Strukturwandel veranlasste viele Leute ihre Kostbarkeiten überstürzt abzugeben. So erwarb er für wenig Geld einen Citroën SM, der mit dem Maserati Motor. Er hatte eine trockene Garage bei Limoges. Der Chevrolet Impala SS Coupe von 1966 war eine Hinterlasenschaft eines Zahnarztes. Damit dieser den Wagen noch zu sehen bekam stand er in der Nähe des Altersstiftes von Berncastel Cues. Einem hochverschuldeten Nachtclubbesitzer konnte er dessen Iso Grifo abshwatzen. 7,4 l V 8, viel Handarbeit im Interieur, häufige Probleme an den Achsschenkelbolzen und gegenüber ca. 480 Nm des Motors oft machtlose Achsgetriebe. In einer einsamen Scheune in der Nähe der Dhünntalsperre hatte er ihn aufgebockt. Ja, zu diesen Zeiten war der Kühleffekt des Benzins im Brennraum noch konstruktiv mit berücksichtigt, das Blei vor der Kat-Zeit kontrollierte unter anderem die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Zündflamme. Damals waren bei korrekt eingestellter Zündung und Vergaser die Auspuffenden nach langer Fahrt weiß. Aber das was ihm am meisten imponierte war der leise Mercedes-Benz 600 als kurze Limousine. Die Pneumatik der Fensterheber funktionierte immer noch tadellos. Sie schossen leicht rauf und runter. Die werksseitige Warnung, die Finger wegzunehmen, sollte ernst genommen werden. Noch leiser jedoch als dieses deutsche Prunkstück war der Buick Skylark Sports Wagon von 1964. Einer dieser riesigen 3-reihigen Kombis mit Panoramadachfenster, 6,6 L wildcat !!! Solch ein Wagen ist einmal auf der Autoausstellung in Deutschland in die Halle gefahren worden und am Ende der Messe stellte sich heraus, daß der Motor noch lief. Niedrig verdichtet und sehr leise. Dreimal ging wieder der pager. Verschreckt guckte er aufs Display. Ach ja, er erinnerte sich. Er war seit Stunden holographiert worden im Rahmen einer Einzelgesprächstherapie für Menschen die nicht ohne Gaspedal leben können oder glauben es nicht zu können. Ihm blieb nur die Wahl, später alles zu leugnen. Seine Sammlung war in Gefahr - sein Therapeut fährt einen Monteverdi Hai.